Wann entstand das Bedürfnis, ein brasilianisches Festival in Österreich zu veranstalten?
Vanessa: Relativ schnell nach meiner Ankunft in Wien stellte ich fest, dass viele Brasilianer und Brasilianerinnen, die hier leben, mit der eigenen Kultur nicht viel Kontakt hatten. Und was es in Wien gab, das waren in erster Linie Samba-Shows, und das ist ja nur ein kleiner Ausschnitt brasilianischer Kultur. Das Brasilianische Kulturfestival sollte auch andere, bisher unbekannte kulturelle Elemente zeigen, und damit das Bild von Brasilien vervollständigen, das war immer eine wichtige Zielsetzung. Brasilien ist mehr als Samba, Fußball und Amazonas. Das Festival brachte das erste Mal die „Literatura de Cordel“ nach Österreich. Wir haben damals in Zusammenarbeit mit der Universität Wien einige dieser Literatur-Heftchen in die deutsche Sprache übersetzen lassen, das war Pionierarbeit. Das Festival zeigt Tänze wie Carimbó aus dem Norden, das kennt hier fast niemand. Wir haben international prämierte brasilianische Filme, als europäische Erstaufführung mit englischen Untertiteln gezeigt. Generell kann man sagen, dass wir vielen brasilianischen Kunst- und Kulturschaffenden eine Bühne für ihre Werke und Darbietungen gegeben haben. Hierbei ist das Weltmuseum Wien ein wichtiger Kooperationspartner, ein Auftritt in der Säulenhalle ist wohl für jeden etwas Besonderes. Auch Online waren wir sehr aktiv, wir haben das Festival in der Pandemie und im Lockdown weitergeführt. Wir haben eine eigene „Virtuelle Galerie PAPAGAIO“ aufgebaut, wo insgesamt 42 brasilianische bildende Künstler und Künstlerinnen ausgestellt haben. Weiters waren Fotos des österreichischen Fotografen Mario Baldi aus dem Archiv des Weltmuseums zu sehen.

Das Festival dient nicht nur als Freizeit-, Bildungs- und Kulturveranstaltung, sondern auch als Pfad für die Menschenrechte, für die Akzeptanz der LGBT-Community und als Beispiel für das Aufbrechen strenger Schönheitsstereotypen.
Michael: Natürlich weist das Festivals auch immer wieder darauf hin, was in Brasilien nicht optimal läuft, das geht von der Brandrodung im Amazonas bis zur Schlechterstellung und Diskriminierung von Minderheiten und Randgruppen. Das Festival ist selbstverständlich offen für die LGBT-Community, als Akteurin oder als Publikum, und orientiert sich nicht an Stereotypen, egal welcher Richtung.
Nach 10 erfolgreichen Festivals, was hat euch am meisten Spaß gemacht und welche Anekdoten könnt ihr uns erzählen?
Vanessa: Spaß macht vor allem der Applaus des Publikums, wir zählten beim Festival im September 2022 im Weltmuseum 500 Besucher und Besucherinnen. Die positive Resonanz in den Social Media-Kanälen ist wichtig und wenn die Akteure und Akteurinnen gleich nach ihrem Auftritt fragen, ob das Festival im nächsten Jahr wieder stattfinden wird. Herausfordernd war die Umstellung auf Live-Stream während des Lockdowns und die Umsetzung einer mehrphasigen Online-Programm-Schiene - diese werden wir auch in Zukunft weiterfahren, als zusätzliches Angebot für die Verbreitung an ein noch größeres Publikum, wir haben brasilianische Communities weltweit bis nach Japan.

Kultur ist ein universelles öffentliches Gut, das als Brücke für Integration und Inklusion dient. Glaubt ihr, dass das Brasilianische Kulturfestival diese Prämisse erfüllt?
Michael: Es leistet auf jeden Fall seinen Beitrag. Wer dort auftritt, hat seinen Auftritt in Österreich, kann Werbung für sich selbst und seine Arbeit machen. Das österreichische Publikum bekommt ein anderes Brasilien als nur das übliche Klischee zu sehen. Vielleicht entsteht bei dem einen oder andern das Interesse, einmal hinzufahren, um das Land vor Ort kennenzulernen. Wir zeigen mit der Kultur ein positives Image Brasiliens. Zur Inklusion: Das Festival ist barrierefrei zugänglich. Wir haben außerdem ein Projekt mit brasilianischen
Rollstuhl-Fahrern und -Fahrerinnen in Planung, die eine anspruchsvolle Tanz-Perfomance auf die Bühne bringen.

Wird das Festival auch auf andere österreichische Bundesländer ausgedehnt?
Vanessa: Wir hatten in den letzten Jahren auch Programm-Punkte in der Steiermark, Salzburg und Kärnten. Der Schwerpunkt wird jedenfalls weiterhin in Wien sein. An dieser Stelle auch unser Dank an Wien Kultur für die Förderung des Brasilianischen Kulturfestivals.

Welche Vorteile bringt das Casa de Cultura Brasil-Austria (Brasilianisch-Österreichisches Haus der Kultur) mit sich?
Vanessa: Wir haben damit einen Stützpunkt in Brasilien, mit über 400 m² Fläche für Ausstellungen, Workshops, Film-Vorführungen, für Kurse im Bereich Malerei, Skulptur, Musik oder Gastronomie – zur Eröffnung gab es übrigens Apfelstrudel. Das Kulturhaus bietet auch österreichischen Künstlern und Künstlerinnen die Möglichkeit, dort zu wohnen und gleich am selben Ort die Workshops und Kurse zu leiten. Damit bringen wir ein Stück österreichischer Kultur nach Brasilien, wir arbeiten jetzt in beide Richtungen, das ist die Zukunft.
Vanessa Noronha Tölle & Michael Tölle
www.festivalculturaldobrasil.org
https://vanenoronha.wixsite.com/papagaio
Über Lic. Vanessa Noronha
Volksschullehrerin und Administratorin in Aracaju, Hauptstadt des Bundesstaates Sergipe. Studium der Pädagogik an der Universidade Tiradentes (UNIT). Lebt seit 2005 in Wien. Entwickelte das Projekt „Portugiesisch für Kinder“, Umsetzung ab 2009 mit Unterstützung der Brasilianischen Botschaft. 2011 - 2014 erste Muttersprachenlehrerin für Portugiesisch an der Volksschule in Wien. Gründete 2009 gemeinsam mit Michael Tölle den „Österreichisch-Brasilianischen Bildungs- und Kulturverein PAPAGAIO“, dessen Vorsitzende sie ist. Organisatorin des „Brasilianischen Kulturfestivals Wien“, welches im September 2022 das 10. Mal stattfand. Im Juli 2022 eröffnete sie in Aracaju das Kulturhaus Brasilien-Österreich („Casa de Cultura Brasil-Áustria“) ♠
Über Mag. Michael Tölle
Studium der Soziologie, Ethnologie und Betriebswirtschaft in Wien. Erste Reise nach Brasilien 1988, von 1987 bis 2004 Mitglied der Sambaschule Rot-Weiß-Rot. Mitbegründer des Vereins PAPAGAIO und Stellvertretender Vorsitzender. ♠










